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Das ist ein Traum von Robyn, in dem Aaron das erste Mal mit ihr redet und sie von der Traumdimension erfährt.

Der Nachthimmel wirkt grau und düster. Keine Sterne sind zu sehen, auch der Mond findet keine Lücke zwischen den Wolken. Nur ein Blitz erhellt ab und an das Schiff, auf dem ich stehe. Das Wasser schäumt um den Bug und die See ist unruhig. Schnappt nach dem Schiff wie ein hungriges Untier.
Eine Welle lässt das Schiff schaukeln und ich stolpere einen Schritt nach hinten. Ich pralle gegen einen Mast und halte mich dort fest.
Einen tiefen Atemzug lang ist außer dem Rauschen des Meeres und dem entfernten Grollen des Himmels nichts zu hören. Dann dringen jedoch weitere Geräusche an mein Ohr. Scharfe Befehle von tiefen Männerstimmen. Schwere Schritte, die auf das Deck kommen.
Hektik breitet sich unter den Schiffsleuten aus, aber ich habe das Gefühl, als wäre ich einfach eine Beobachterin, die niemand bemerkt. Ich beobachte sie dabei, wie sie unbefestigte Dinge unter Deck bringen und Wasser, dass sich an manchen Stellen sammelt, wegschippen. Keiner von ihnen beachtet mich.
Trotzdem spüre ich einen Blick auf mir. Ich sehe mich um, bis ich ein fast schon vertrautes Gesicht entdecke. Er steht an der Brüstung und starrt mich an. Ich sehe in seinen Augen den Schmerz, der scheinbar immer darin glänzt. Ich mache einen Schritt auf den Traumwandler zu, unsicher, ob er sich nicht gleich ins Meer stürzen wird. Schließlich hat er in den letzten beiden Träumen genauso gehandelt. Warum soll er sich jetzt nicht auch umbringen wollen?
Er rührt sich nicht. Ich mache einen weiteren Schritt und noch einen, bis ich wenige Schritte vor ihm stehen bleibe. Ich will etwas sagen, kann aber keinen Satz formulieren. Er löst seinen Blick nicht von mir und ich starre einfach zurück.
„Warum lässt du mich nicht sterben?“, fragt er schließlich und seine Stimme klingt so schmerzerfüllt und traurig wie sein Blick ist.
Diese Frage verblüfft mich, obwohl ich schon geahnt habe, dass er etwas in der Art sagen würde. „Warum sollte ich? Es gibt keinen Grund dazu.“
„Vielleicht ja doch? Woher weißt du, dass es keinen Grund dazu gibt?“
Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange. Vielleicht hat er ja tatsächlich einen triftigen Grund? Aber … „Niemand hat einen gerechtfertigten Grund, um sich umzubringen!“, sage ich mit Nachdruck. „Auch du nicht.“
Er sieht mich immer noch mit diesem niedergeschlagenem Gesichtsausdruck an. Dann dreht er sich um und starrt auf das tobende Meer hinaus. Die Männer des Schiffs ignorieren uns immer noch. Langsam frage ich mich, ob sie uns überhaupt sehen. „Wenn du keine andere Wahl hast, als in Träumen zu leben, dann wirst du anders denken“, murmelt der Traumwandler. Ich muss direkt neben ihn treten, um ihn richtig verstehen zu können. „Ich muss durch die Träume anderer Menschen reisen. Sehen, was sie haben oder was sie sich wünschen. Wovor sie Angst haben und was ihnen zugestoßen ist. Auf die Dauer hält das niemand aus. Aber ich habe keine andere Wahl, als das auszuhalten.“
„Aber … Warum bist du in Träumen gefangen? Und wie lange schon? Und ist das alles nur
mein Traum? Ich meine, wenn das hier wirklich nur mein Traum wäre, dann würde das Schiff nicht so schaukeln.“
Er schnaubt belustigt und als ich zu ihm rüberschaue, sehe ich etwas in seinen Augen blitzen, das ich nicht beschreiben kann. „Das liegt daran, dass das nicht mehr nur dein Traum ist. Du bist jetzt in der Traumdimension, da wird nur die Idee deines Traums aufgefasst. Ansonsten handelt diese Welt eigen.“
„Hä?“, mache ich, während ich die Stirn runzele. „Das heißt, wer träumt, träumt gar nicht, sondern lebt in einer anderen Welt?“
Er schüttelt den Kopf. „Nein, nicht ganz. Du kannst ganz normal träumen. Dann spinnt dein Hirn dir das zusammen, was es verarbeiten will. Aber es gibt auch Träume, durch die du in die Traumdimension gelangst, eine Ebene des Träumens überschreitest und hier bist. In diese Ebene zu gelangen ist schwer, aber sobald du es einmal geschafft hast, dann wird es mit jedem Mal einfacher“, erklärt er. Dann zögert er, als ob er noch etwas hinzufügen will. Aber er schweigt und ich verkneife mir die Frage, die meine Neugier am liebsten herausgebracht hätte.
Stattdessen denke ich über das Gesagte nach. Diese Traumgrenze musste ich übertreten haben, als ich im Koma lag und von ihm träumte. Das war auch mein erster Traum, in dem sich alles so echt angefühlt hatte. Hätte ich nicht durch das eine oder andere Zeichen wie die kräftige Farbe der Blumen oder die Füchsin, die mich nicht als potentielle Gefahr für ihre Jungen betrachtete hatte gewusst, dass ich träumte, hätte ich tatsächlich gedacht, es wäre die Realität.
„Das heißt, du lebst in dieser Traumdimension? Aber warum?“, greife ich die Frage wieder auf, die ich ihm vorhin schon einmal gestellt habe, er aber absichtlich oder unabsichtlich ignoriert hat.
„Ja, tue ich. Warum ist völlig egal“, sagt er und weist mich ab, indem er seine Lippen aufeinander presst, um mir zu verstehen zu geben, dass er nicht mehr sagen wird.

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